Jahrgang 70

1970 - kein besonders guter Jahrgang, aber er hat zwei wirklich unantastbare Jahrhundertweine hervorgebracht, den Latour und den Petrus, notiert der Weinguru René Gabriel in einem seiner bibliophilen Werke unter der Rubrik „Das Alte Testament“. Da lässt sich sein ewiger Konkurrent um die Vorherrschaft der Weinpäpste, Robert Parker, nicht lumpen und beginnt bei der Verkostung des 70er Petrus zu schwelgen: „Das mächtige Bukett enthüllt Zedernholz, Karamell, Vanille, Tabak, Früchtebrot und von Lakritze durchdrungene Schwarzkirschmarmelade“. Er attestiert diesem Jahrhundertwein eine erste Genussreife nach 35 Jahren. Gabriel kommentiert lapidar: „austrinken“.

Auch der 1970 geborene Ralf Tekaat stellt Prognosen auf, allerdings nicht über die Genussreife und Höhepunkte von Jahrhundertweinen, sondern über das Leistungspotential verschiedener Berufsgruppen. Ein Diagramm gibt Auskunft. Die Leistungskurven - ein wenig unbeholfen und krickelig - mit dem Buntstift auf kariertem Papier gezogen, sind im Ergebnis unerbittlich. So hat der Ballkünstler bereits mit 35 Jahren seinen Zenit überschritten, hingegen steuert der richtige Künstler mit 35 Jahren seinem ersten beruflichen Höhepunkt entgegen. Stimmt: Tekaat hat schließlich in diesem Jahr seine erste Förderpreisausstellung. Das Diagramm ist Detail einer seiner raumgreifenden Wandinstallationen und gibt dem 35jährigen wohlmöglich zusätzlich Sicherheit für das künftige Künstlerdasein.

Zeitungsausschnitte, Zettel mit Notizen, Fotos, Kommentare, Telefonbuchseiten, Auszüge aus Skizzenbüchern und dergleichen mehr sind Material seiner Inszenierungen. Die Wand wird zum großen Blatt Papier, hier eine spontane Setzung, dort ein durchdachter Eingriff. Mal sind die Dinge lapidar befestigt, mal ordentlich gerahmt. Ist hier beiläufig etwas platziert, was als Resultat angestrengter Überlegungen erscheint oder ist hier geplant und streng durchdacht, was dem Betrachter beiläufig gegenübertritt? Gottlob verzichtet Tekaat auf vordergründige Irritationsstrategien, statt dessen gelingt es ihm, die Dinge in der Schwebe zu halten.

Tekaat schöpft aus verschiedenen Quellen wie Literatur, Film und Fernsehen, ebenso inspirieren ihn Science Fiction, Fußball und last but not least die Kunstgeschichte. Der Umgang mit diesem Fundus erschöpft sich keineswegs im bloßen Zitat, vielmehr findet stets eine formale und inhaltliche Umwertung dieses Materials statt. Tekaat arbeitet gattungsübergreifend - Zeichnung, Installation und Text stehen gleichberechtigt nebeneinander. Wie so oft bietet auch hier ein Blick auf die Titel eine erste Form der Annährung. Die Titel legen eine Fährte, der Betrachter kann Witterung aufnehmen, um sie möglicherweise über kurz oder lang wieder zu verlieren. „Superman kommt zu spät (und Real gewinnt 1:0)“, „Mars needs Women“, „Superman ist übermütig dreht aber trotzdem wieder um“, nur um einige Titel zu nennen. Seine Titel spielen mit Assoziationen und Ambivalenzen, irritieren den Betrachter einerseits und sind Orientierungshilfe andererseits, indem sie auf eine mögliche Lesart der Arbeiten verweisen. Ernst wie heiter, pointiert wie mehrdeutig pochen die Titel auf Aufmerksamkeit. Die bereits in den Titeln der Arbeiten angelegte Mehrdeutigkeit ist der Ariadnefaden, der sich durch sein Werk zieht und es prägt.

Seine Projekte und Recherchen greifen weder politisch brisante Themen auf, noch erklimmen sie die theoretischen Höhen des Kunstdiskurses. Trotzdem oder gerade deshalb verbreiten seine Arbeiten keineswegs kunsthistorische Langeweile und fade politische Korrektheit. Sie tangieren verschiedene Ebenen und oszillieren zwischen Gefundenem und Erfundenem, Fakten und Fiktion, zwischen journalistischer Dokumentation und künstlerischer Freiheit. Reales scheint fiktiv, Fiktives real zu werden, Form wird Inhalt und Inhalt wird Form, Sein und Schein, Wirklichkeit und Erfindung verschränken sich. Mal scheinen die verschiedenen Ebenen Balance zu halten, dann miteinander um Vorherrschaft zu ringen, mal überwiegt das eine, mal das andere. So entstehen kunstvoll gestrickte Netzwerke, die genügend Stoff für Assoziationen und weiterführende Reflektionen bieten, die gleichermaßen seriös und absurd erscheinen.

Searching Thomas

Für seine Installation „Auf der Suche nach Thomas R. Pynchon“ erhielt Tekaat den Bremer Förderpreis für Bildende Kunst. Im November 2002 machte er sich nach New York auf, um den am 8. Mai 1937 geborenen Schriftsteller Thomas Pynchon zu suchen, der dort 1997 wohl zum letzten Mal gesehen wurde. Man weiß wenig über Pynchon. Mitunter wird sogar die Existenz des Schriftstellers in Frage gestellt und behauptet, er sei nur eine fiktive Figur, ein Pseudonym für J.D. Salinger oder für ein ganzes Autorenkollektiv. Real verfügbar sind seine Romane und Kurzgeschichten. Charakteristisch für das Werk des mehrfach preisgekrönten Autors sind stilistische Virtuosität und eine ungeheure Informationsfülle. Pynchon ist in der Welt der Comics und Zeichentrickfilme ebenso zu Hause wie er Technik und Physik mit Psychologie und Kulturgeschichte in Zusammenhang bringt. Tekaats damalige Installation spiegelt diese Spurensuche. Eine nahezu barock anmutende Materialsammlung kam zum Einsatz: 300 Fotos, Fundstücke, Kommentare, Notizen und Zeichnungen sowie rund 140 Zeitungsartikel aus den letzten 35 Jahren.
Auffällig an diesem Projekt ist die gelungene Verschränkung und Überlagerung verschiedenster Ebenen. Tekaat hat nach und nach seine Recherche und deren formale Umsetzung den Strukturen in Pynchons Romanen angeglichen. Handlungsstränge verschlingen sich ineinander. Einzelinformationen verselbständigen sich und beginnen opulent zu wuchern. Tradierte Erzählstrukturen lösen sich in einem Labyrinth von Handlungen und in einer Vielzahl von Bedeutungen auf. Bei Tekaat wird die Suche zur fixen Idee stilisiert und verselbständigt sich nach dem Motto: die Suche ist alles - das Ziel ist nichts. Umkehrungen finden statt: der Suchende wird zum Gesuchten, der Verfolger zum Verfolgten. Er scheint in die Rolle des jeweiligen Gegenübers zu schlüpfen und dessen Identität anzunehmen, um ebenso an der eigenen festzuhalten, „um Pynchon nahe zu sein, aber auch, um mich von ihm zu befreien“. Rollenzuweisungen geraten ins Wanken. Routiniert wie leichtfüßig wechselt Tekaat die Rollen, gekonnt überlagern sich die Identitäten von Autor und Künstler. Letztendlich bleibt offen, wer ist Autor und wer ist Künstler.

Das Runde und das Eckige

Ralf Tekaat ist nicht nur an Fußball interessiert, sondern bekennender und praktizierender Bayern-München-Fan. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass er für sein Projekt „Das Runde und das Eckige“, bei dem es um gewichtige Vorbilder geht, an erster Stelle einen Ballkünstler nennt, und zwar den Bayernspieler Mehmet Scholl. Tekaat hat Personen aufgefordert, drei Vorbilder nach 12 Sekunden Bedenkzeit zu nennen, wobei die Nennenden anonym bleiben. Ausnahmen bestätigen die Regel. Tekaats weitere Favoriten sind James Joyce und Harald Schmidt. Spielerisch versammelt Tekaat an der Wand Material über seine Helden. Diese bunt zusammengewürfelte Mixtur aus Fotos, Notizen und Zeichnungen scheint auszuufern. Wie immer ist der erste Blick ein schlechter Ratgeber, denn es gelingt Tekaat, diese Materialfülle mit leichter Hand zu domestizieren.

Mehmet Scholl ist wie Ralf Tekaat 1970 geboren. Zwar wurde Scholl in den letzten Jahren verletzungsanfällig, aber dieser Filigrantechniker ist immer noch ein Virtuose am Ball, dessen raffinierte Freistöße für Abwehr und Torwart nicht leicht zu lesen sind. Auch Ralf Tekaat ist Virtuose, insbesondere im Umgang mit Graphit. Ebenso wie das Spiel von Scholl sind seine Arbeiten nicht ohne weiteres zu lesen, voller Überraschungen und (Spiel)Witz. Die Fußballschuhe, die Tekaat trägt sind übrigens Schuhe, deren Marke auch Mehmet Scholl bevorzugt. Auf einem an der Ausstellungswand befestigten Zettel stand zu lesen: „Für Vereinsspieler sind es Angeberschuhe, für Hobbyspieler reine Verschwendung“.

Und die Antworten der weiteren Teilnehmer? Zu lesen auf kleinen an der Wand nebeneinander aufgereihten Kärtchen. Ein breites Spektrum hat sich ergeben: Popstars, Philosophen, Fußballer, Literaten, Wissenschaftler bis hin zu Familienmitgliedern waren tauglich, zum Vorbild nobilitiert zu werden. Beispielsweise wurden genannt: Franz Kafka, Robert de Niro, Martin Luther King; Robert Musil, Jim Morrison, Madonna; Immanuel Kant, Karl Marx, Michael Jordan; Bach, Donald Duck, Odysseus; Hölderlin, Mark E. Smith, Ailton; Albert Einstein, Freddy Mercury, Eric Clapton. Das Privileg von Mehrfachnennungen konnten verbuchen: Sophie Calle, Albert Einstein, Jim Morrison, James Joyce, Oskar Schindler, Douglas Adams, Joseph Beuys, Sophie Scholl und Martin Luther King.

Bilder aus der Rezession

Mit der Installation „Bilder aus der Rezession“ begibt sich Tekaat auf ein Terrain, das Zeichner selten bespielen und thematisiert Fragestellungen, die für viele kopflastig und daher als verdächtig gelten. Ihn interessiert der Kontext, in dem seine Arbeiten entstehen und hinterfragt die Bedingungen der eigenen Arbeit. Sein Ergebnis führt diese Vorurteile ad absurdum. Auch diese Arbeit schöpft aus einem riesigen Fundus von Fotos, Skizzen über Zeitungsartikel bis hin zum Kassenbon.

Was ist zu sehen? Ein mit „Der Wall ist rund“ betitelter Zeitungsausschnitt über die Allianz-Arena in München nebst einer Abbildung dieses nach Entwürfen von Herzog/deMeuron gebauten Fußballstadions, das wie eine Schwimmweste oder ein Ufo anmutet. Und ein weiterer Artikel aus der Süddeuschen Zeitung mit dem Titel “Einer flog übers Falkennest - Reise in den gedachten Krieg“. Der Autor Wolfgang Kemp hat sich mit Paul N. Sinkiewicz unterhalten, der als Befürworter eines hochtechnisierten Krieges gilt, und zieht Parallelen zu Kubricks Film “Dr. Seltsam - oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben”. Ferner sehen wir klitzekleine Zeichnungen - wohl ein Netzwerk von Überwachungskameras, Aufnahmen einer Fernsehdokumentation des Unglücks der Raumfähre Columbia, unterlegt mit dem verzweifelten Ruf der Weltraumbehörde “Columbia bitte melden”. Oder einen Kassenbon einer großen Einzelhandelskette mit dem Slogan „Hier schlägt das Herz“. Tekaat ist von diesem Slogan begeistert. Mir hingegen ist auf dem Bon die Position „Grana Padano 1,59“ im kulinarischen Gedächtnis geblieben. Und eine Seite aus einem Versandhauskatalog. Angeboten wird eine aufblasbare Kirche zum Preis von 31500 Euro.


Oftmals sind seine Themenfelder medial vermittelt, mal stehen eigene Erfahrungen im Vordergrund, dann greift er Anregungen von Freunden auf. Somit werden Bezüge deutlich, woher kommen die Motive, was sind die Themen. Hier hat Tekaat stets wiederkehrende Vorlieben: Krieg der Sterne, Architekturen, Waffensysteme, Überwachungs- und Kontrollmechanismen, Eroberungs- und Verteidigungszenarien, Verschwörungstheorien. Keineswegs fokussiert diese Arbeit nur einen kontextuellen Hintergrund, sondern aus der Fülle an Informationen entsteht ein eigenes Geflecht und Netzwerk. Fast scheint es so als ob Tekaat sein Atelier im Ausstellungsraum ausgebreitet hat. Hier wird auf höchst subtile Weise die eigene Arbeitsweise thematisiert, weder wird auf Visualisierung verzichtet noch das Ergebnis dem Betrachter in didaktischer Weise auf einem Tablett präsentiert.

Black Moby

Neben installativen Arbeiten bilden Zeichnungen eine weitere zentrale Werkgruppe, wobei die Maße der Blätter oftmals das gängige Format sprengen. Drei mal sechs Meter misst seine größte Arbeit. Tekaat schraffiert mit Bleistift und Buntstift rätselhafte Dinge oft mit einem blockhaften und statischen Charakter. Diese Dinge haben Form und Volumen, geben aber reale Dimension und wirkliches Gewicht nicht preis, schaffen eine eigene Bildwirklichkeit und führen ein Eigenleben, bleiben rätselhaft und ambivalent. Die Dinge sind weder Abbild einer uns vertrauten Alltäglichkeit noch klassische Bildhauerzeichnungen, die auf eine dreidimensionale Verdinglichung warten, vielmehr bleiben die Dinge Zeichnung und Idee.

Seine Zeichnungen sind abstrakt genug, um eine direkte Lesbarkeit zu verhindern, sie sind konkret genug, um dem Betrachter auf der Ebene der Anschaulichkeit einen Zugang zu ermöglichen. Nicht der flüchtige, filigrane Strich steht im Vordergrund, sondern das Malerische und Bildhauerische. Mal wirkt die Fläche hermetisch geschlossen, mal gelangen tieferliegende Schichten zur Durchsicht. Stets bleibt eine Struktur erkennbar. Je nach Standort des Betrachters und Lichtsituation verändern sich die Zeichnungen, der Betrachter ist gezwungen, sich zu bewegen. Lakonisch wie humorvoll, beklemmend wie heiter, bedrohlich wie spielerisch treten die Zeichnungen dem Betrachter gegenüber.

Tekaat spielt gekonnt mit den Assoziationen der Betrachter. So erinnert die Zeichnung „Grünfell“ an das abgezogene Fell eines Bären, an eine Jagdtrophäe oder einen Wandteppich. So scheint “Black Moby” eine kompakte minimalistische Skulptur wie Bunkeranlage gleichermaßen zu sein oder reißt hier ein undefinierbares Wesen sein Maul auf? Irritierend ein kleiner weißer Kreis - ist es die Öffnung einer Schießscharte, ist es ein winziges Objektiv, das in Stellung geht und den Betrachter in Augenschein nimmt oder das Auge von Moby Dick, dem legendären Wal? So birgt auch das Blatt mit dem Titel „Vieh“ ein vielfaches Assoziationspotential: U-Boot, Flugobjekt oder Federvieh - das ist die Frage, wer vermag sich hier schon zu entscheiden. Jedes dieser Blätter hat mehrere Gesichter und erzählt mehrere Geschichten.

Entschiedene Mehrdeutigkeit

Stets wiederkehrende Themen ziehen sich durch das gesamte Werk und finden in unterschiedlichsten Medien jeweils eine andere Form der Realisierung. So entsteht ein Kosmos von Verdichtungen und Überlagerungen. Weder erfüllen seine Arbeiten die Sehnsucht der Moderne nach Pathos und Schönheit noch ist seinen Arbeiten der in Mode gekommene und oft strapazierte politische Moralismus eigen, weder beharren seine Strategien im traditionellen Sinn auf Kontinuität noch klammern sie sich an das Ideal des Einzelbildes. Sein Werk ist geprägt von Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten und Verschränkungen. Ist Ralf Tekaat ein virtuoser Zeichner, ist er ein Spurensucher oder Fährtenleger, möchte er Superman, Thomas R. Pynchon oder Mehmet Scholl sein? Ich denke, er hat von jedem etwas. Und gerade diese Mehrdeutigkeit verweist in entschiedener Weise auf das Spannungsgefüge und die Präsenz seiner Arbeiten.

Joachim Kreibohm

Text als PDF zum Download
Zum Werk von Ralf Tekaat
von Dr. Joachim Kreibohm


aus dem Katalog
Ralf Tekaat - Malefiz oder die Kunst einen symmertischen Körper zu zeichnen