Auch Helden haben Probleme mit dem Alltag. „Superman hat was schweres zu mittag gegessen / Superman muss nach dem weg fragen / Superman fliegt besonders schön (aber nicht schnell)“. Das Dossier, das den Überflieger auf dem Boden der Tatsachen ansiedelt, geht noch weiter. Ernüchternd nicht nur für Superman-Fans.

Ralf Tekaat hat die desillusionierende Liste über das urbane Fabelwesen angelegt, das auch durch seine eigenen Allmachtfantasien gerauscht ist. Der Künstler lässt die Ich-Projektion aus Jugendtagen in seiner multimedialen Installation „Fliegen wie Superman“ unsanft landen. In der 83. Herbstausstellung niedersächsischer Künstler füllen Flugübungen und Landungsprotokolle, Silhouetten und Trikots in Zeichnung, Text und Fotografie eine Ecke des Auftaktraums im Kunstverein Hannover.

Eine Porträtskizze des abhebenden Übermenschen schlägt die Brücke zum konkreten und allgemeinen Künstler-Ich. So sehen wir Tekaat bei Flugübungen und im Aufbautraining. Sein Konterfei klebt auf einer windschnittigen Superman-Draufsicht, am Fuß der großformatigen Zeichnung aber dokumentiert ein Paar Hausschuhe eine eher spießige Feierabendgestaltung des Überfliegers. Der Heros musste vom Himmel geholt werden, damit er seinen Bewunderer nicht erdrückt. Der Künstler revidierte seine Anleihen: „Um ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Superman und mir zu erreichen, und da ich nicht sein Niveau bezüglich Kraft und Flugentfaltung erreichen kann, stutzte ich Superman auf ein normalmenschliches Maß.“ Das Scheitern des Helden und des heroisch überhöhten Ich bereitet den Weg, „um Mann und Mensch zu werden“ (D. Spanke).

Ralf Tekaat, Jahrgang 1970, ist mit Cartoons groß geworden. Selbst entworfene Comics bildeten die Vorübung zur Profession des Zeichnens. „Eigentlich bin ich ja Zeichner“ charakterisiert der Künstler sich selbst bis heute mit entschiedener Offenheit. Aber offenbar können auch Zeichner über den Blattrand hinaus blicken, mit Distanz das eigene Konzept umkreisen und den Kontext ihres künstlerischen Tuns ausloten - und zwar mit erheblichem Witz, keineswegs kopflastig und körperlos, sondern materialsatt und trotz Reflexionshöhe und Werkstattcharakter der Präsentation in zuschauerfreundlicher Visualisierung.

Die Befragung von Leitfiguren und Vorbildern, die Reflexion der eigenen Quellen und Einflussfaktoren, die Recherche in der eigenen Biografie wurden zu den Eckpunkten von Ralf Tekaats künstlerischer Strategie. Dabei bevorzugt er rätselhafte Existenzen, verlorene Fährten und biografische Lücken.

Erste Beachtung gefunden hat Tekaat mit seiner „Suche nach Thomas R. Pynchon“, für die er den Bremer Förderpreis für Bildende Kunst 2002 erhielt. Am Anfang und im Zentrum der Installation steht eine vergilbte Fotografie. Wir sehen einen US-amerikanischen Rekruten mit markanten Hasenzähnen. Die Aufnahme aus dem Jahr 1957 zeigt Thomas R. Pynchon. Neben erheblichem literarischem Ruhm kennzeichnet den Schriftsteller eine geheimnisvolle Aura: man weiß eigentlich nichts über ihn. Manche vermuten, es handele sich um eine Fiktion oder ein Pseudonym. Das ist der Stoff für Mythen, für den Pynchon-Fan Ralf Tekaat der Anlass für eine Recherche.

Der Künstler reist nach New York. Dort will man den Autor zuletzt gesehen haben. Tekaat hängt Fotos und Zettel an Bäume oder legt sie zwischen Buchseiten in öffentlichen Bibliotheken: „Do you know this man?“ Er stellt sich beim New York Marathon an die Strecke: „Go, Thomas!“ Unter ein Foto, in dem das Gesicht des Gesuchten mit dem des Künstlers verschmilzt, zeichnet Tekaat ein Phantombild, das Züge des Yeti trägt. Seine Suche erklärt der Zeichner Ralf Tekaat als ein existenzielles Bedürfnis: Er fahnde nach Pynchon, um ihm nahe zu kommen, aber auch um sich von ihm zu befreien - Weichenstellung in einer Künstlerbiografie .

Die Pynchon-Installation steht beispielhaft für das bisherige Schaffen des zur Zeit in Hannover lebenden und arbeitenden Künstlers. Tekaat präsentiert in Gestalt einer Ateliersituation Wege, Stationen und Methoden seiner Fahndung, reflektiert und kommentiert in ironischer Brechung die Macht der Quellenmaterials, die Recherchestrategie und Urteilsfindung, die Rolle des forschenden Subjekts und häufig auch die Rezeption.
Er schöpft aus verschiedenen Quellen: aus privaten und öffentlichen. Eine Hierarchie scheint es nicht zu geben. Fußball, Kunstgeschichte oder Literatur stehen nebeneinander. Die Dinge treten isoliert auf und konstruktiv in Zusammenhänge gestellt. Findet sich so Identität oder erfindet man so Identitäten? Dabei macht Tekaat zugleich sinnfällig: Spurensuche ist Legendenbildung. Künstler tragen nicht unerheblich zur Geburt eines Mythos bei.

Zwischen Text und Bild, Erzählung und Abstraktion pendelnd treibt Tekaat nicht nur seinen Spaß mit der Unterwanderung von Ikonen. Er legt sich selbst - stellvertretend für seine Generation, für seine Profession, für das Publikum - Rechenschaft über die Wirkungsmacht von Leitfiguren und den Bedarf an heroischen Akteuren ab. Er fahndet nach privaten Helden und öffentlichen Legenden und erfindet zugleich Helden und Mythen, derer insbesondere die deutsche Gegenwart seiner Ansicht nach dringend bedarf..

Eine Antwort Tekaats auf diese Lücke heißt „Der Raketenmann“. Den Spuren dieses deutschen Superhelden ist er zusammen mit dem Bremer Kollegen Norbert Bauer gefolgt. Die Herkunft des Raketenmannes liegt im Dunkeln, und auch seine Spezies gibt Rätsel auf: Ist er von den Nazis mit einer V-2 auf eine stabile Umlaufbahn geschossen und durch spätere Wasserstoffbombentests zur Rückkehr gezwungen worden? Oder ist er das Resultat amerikanischer Experimente? Ist er Mensch oder Maschine, besitzt er einen Stirnbrenner und ein eingebautes Feststofftriebwerk? Verblüffend sind die Spuren, die der Raketenmann in der deutschen Geschichte hinterließ: Man sieht ihn schemenhaft bei einer Adorno-Vorlesung und im Berner WM-Finale. Plötzlich erklärt sich der Schatten auf einem Foto mit dem Ehepaar Brandt und Egon Bahr. Es könnte sein, so legt die derzeit in der Frankfurter Galerie Schuster ausgestellte Arbeit, dass die Geschichte umgeschrieben werden muss.

Bei einer Befragung, deren Ergebnisse Ralf Tekaat in seiner Arbeit „Das Runde und das Eckige“ (2005/2006) präsentiert, liefern mehr oder weniger anonym bleibende Zeitgenossen die Top Three ihrer persönlichen Idole.
„Meine Oma, Oskar Schindler, Jackie Kennedy“ oder „Wolfgang Schmitz, Nina Hagen, Herbert Tichy“ findet man da. Letzteres ist nicht das Ranking von Schmitz-Schüler Tekaat. Bei ihm stehen Mehmet Scholl, Harald Schmidt und James Joyce ganz vorn. Das lässt sich nachvollziehen: Scholl ist der gleiche Jahrgang wie Tekaat, so etwas schafft Nähe. Subversiven Humor Harald Schmidtscher Couleur trifft man bei Tekaat ebenso wie die wuchernden Anlagerungen detaillierten Datenmaterials nach Art des irischen Chronisten Joyce.

Vor allem aber Mehmet Scholl. Da hat sich eine ganz besondere Affinität zwischen Bayern-Fan Tekaat und dem Ball-Zauberer der alten Schule aufgebaut. Und es wird verglichen. Der Künstler und Hobbyfußballer stellt seine Wade neben die des Sportlers, seinen Lebenslauf neben die Verletzungsbilanz Scholls und befragt seinen Körper auf hochleistungssportliche Tauglichkeit. Trifft man auf gleichaltrige Prominenz, ist eine Frage unvermeidbar: Habe ich eigentlich alle Chancen genutzt oder ist das eigene Potenzial vergeudet? Tekaat beruhigt sich mit einer mit einer vergleichenden Leistungskurve: Wenn Sportler wie Scholl, zuletzt nur noch dauerverletzt, den professionellen Standard nicht mehr bedienen können, starten Künstler häufig erst durch.

So kann der Künstler die Weisheiten des grünen Rasens noch länger pflegen als der Ball-Virtuose: „Geh raus und mach dein Ding!“ „Die Wahrheit liegt aufm Papier.“ „Nach der Zeichnung ist vor der Zeichnung.“ Spätestens hier offenbart sich der zentrale Fluchtpunkt in Tekaats multimedialen Collagen: Die Zeichnung ist meist Ausgangspunkt, manchmal lässt sie sich sogar als Werk aus dem offenen Werkstatt-Kontext herauslesen. Häufig taucht sie als Hilfsmittel in der Recherche auf. Zeichnungen tragen dazu bei, dass sich der Assoziationsradius für die dokumentarischen Materialien öffnet und die erzählerischen Linien abstrahierend in Schach gehalten werden.

Tekaat schraffiert, besser modelliert mit Bleistiften auf häufig großen Papieren Objekte, Flugkörper, Architekturen. Er greift von der Mitte des Blattes zu den Rändern aus, Strich für Strich Form anlagernd und zugleich Geheimnis einschreibend. Es sind merkwürdige Gerätschaften einer geheimnisvollen Industrie und Arbeitswelt, Waffensysteme, Schutzhelme, Tragflächen, Raumschiffe oder Bunkeranlagen, nicht selten vieles davon in einem Motiv. Die Vielschichtigkeit der Installationen findet sich also schon in den Zeichnungen: Spuren werden aufgegriffen, Fährten gelegt, Fallen gestellt, Pflöcke gesetzt und Haken geschlagen. Die Körper sind freigestellt, Vorder- und Hintergrund fehlen, die Proportionen bleiben offen, trotz der schraffierten Dichte und Schwärze wirken die Dinge leicht, sie scheinen zu schweben. Die Imagination kann die Objekte in beliebig viele Zusammenhänge und Kulissen hinein projizieren. Neben der bloßen Anschauung, die ins Rätselhafte führt, weisen Titel in Erzählungen, die sich um die Blätter ranken könnten.

In seiner jüngsten Arbeit, derzeit noch in der Rohfassung an der Atelierwand des Künstlers in Hannover zu finden, betreibt Ralf Tekaat Familiengeschichte. Nicht ein Fixstern pubertärer Orientierungssuche steht im Mittelpunkt, sondern der Großvater des Künstlers. Die Materialien gleichen den anderen Raum- und Wandcollagen:
Fotos, Zettel, Papierschnipsel, Zeichnungen, Zeitungen, Landkarten, Lexikonartikel. Man steigt über einzelne Wörter und Sätze ein: „Überraschungen vorzubeugen, Angst ausräumen“, „private investigations“, „gewöhnliche Leben“. Ein Pass als Dokument des Kriegsheimkehrers, die Fotografie eines Soldaten, eine Karte der Insel Krim. Der Fokus der Collage lässt sich umkreisen. „Was hätte der Enkel machen können oder müssen, um den Großvater zum Erzählen zu bewegen?“, ist auf einen Zettel gekritzelt. „Selbstverständlich, dass nicht geredet wurde.“ Eine verstörende Entdeckung beim Fund einer Fotografie und von Kriegsspielzeug: Warum dieser unbekümmerte Umgang mit Soldaten und Waffen aus Plastik? Warum Krieg spielen und nicht mit einem Betroffenen über den Krieg sprechen? Ein Foto des Künstlers aus Kindertagen mit seinem Teddybär „Addy“. So hieß ein Bekannter der Mutter, der wohl nett gewesen sein muss. Erst später hat der Künstler begriffen, dass Addy die Abkürzung von Adolf ist. „Dallas und was erzähle ich meinen Kindern“. Die Familie schaute fern, genauer die Mutter und der Sohn sahen „Dallas“ im Fernsehen. Der Vater las Zeitung. Als die Mutter tot war, las der Vater nicht mehr Zeitung, sondern schaute auch Dallas. Früh stellte sich eine Affinität zu den USA ein. Als Kind lebte der Künstler zusammen mit seinen Eltern ein Jahr in Amerika.

Ohne Erinnerung keine Identität. Erinnern heißt Sammeln, Ordnen, Verstehen. Wie aber verstehen und was? Die Erinnerung tritt bei Tekaat als Spiel auf.
„Biografie - ein Spiel“. Max Frisch schrieb sein Stück aus dem Missfallen an der klassischen Dramaturgie und der monokausalen Organisation von Handlungsschemata heraus. Der Autor erprobte dabei seine „Dramaturgie der Permutation“, eine Methode, bestimmte Grundkonstellationen im Hinblick auf darin beschlossene Möglichkeiten zu erkunden: demnach „sehen wir, wo immer Leben sich abspielt, etwas viel Aufregenderes: es summiert sich aus Handlungen, die oft zufällig sind, und es hätte immer auch anders sein können“. Dabei geht es Frisch aber nicht um eine Ästhetik des bloßen Zufalls. Er möchte eine „Dramaturgie des Unglaubens“ ins Werk setzen, darauf aufbauend, das derart „das Gespielte ... einen Hang zum Sinn (erhält), den das Gelebte nicht hat“.

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Über Ralf Tekaat
von Rainer Beßling


aus artist Kunstmagazin Nr. 69, Bremen 2006