Imagine all the people

Above us only sky entstammt dem berühmten Lied des 1980 ermordeten Musikers John Lennon mit dem Titel „Imagine“. Es handelt von der Vorstellung einer Welt ohne Grenzen, in der alle Menschen miteinander in Frieden leben und über der keine Bedrohung durch Kriege schwebt, sondern lediglich der offene, grenzenlose Himmel. Dieses Gefühl des Himmels, der Unendlichkeit vermittelt, mag Ralf Tekaat gespürt haben, als er im letzten Jahr wieder einmal sechs Monate in New York verbrachte und von hier aus Amerika bereiste und Eindrücke dieser Reisen zeichnerisch umzusetzen. Architektur- und Landschaftszeichnungen lassen die enorme Größe und Massivität mancher Bauten ebenso spüren wie die erhabene Kraft des Canyon oder amerikanischer Berglandschaften. Zwischen Abstraktion und Figuration angelegt, vermitteln die Blätter einerseits den Eindruck enormer Wuchtigkeit, andererseits denjenigen graziler, minimalistischer, ja fast skulpturaler Architektur. Der mal grobe, mal feine Strich einer Landschaftszeichnung verdeutlicht die erhabene Grobheit mancher Felsformation auf bedrohlich-expressive Art und Weise. Ebenso lassen opake dunkle Farbformen, die in geschwungener Dynamik um die Ecke kommen gleichzeitig an bedrohliche Gegenstände aus fremden Welten denken. 

„Hello, it’s me“ lautet der Titel einer 15-teiligen Serie aus Blättern, die Bild und Text zueinander in Beziehung setzt. Aus dem gerahmten Raster an Textblättern ragen immer wieder grob in schwarz auf weiß umrissen gemalte und zaghaft gezeichnete Gesichter heraus, vielleicht Portraits real existierender Personen, hierauf deutet hingegen kein besonderer Titel. Die Textblätter sind mal länger, mal kürzer, oft sind die mit dem Computer meist ohne Interpunktion getippten Sätze durch handschriftliche Sätze ergänzt oder durch Durchstreichungen und überschriebene Worte korrigiert. Passagenartig wird durch Geschichten und Anekdoten an Personen erinnert, die hingegen nie namentlich genannt werden, sondern meist wird von ihnen in der dritten Person singular gesprochen, ein Mittel, das Distanz schafft.
Es sind immer außergewöhnliche, nicht alltägliche Ereignisse und gemeinsame Erlebnisse, über die wir uns an Menschen, die wir mehr oder auch weniger kannten, erinnern. Meist bleiben die glücklichen Momente im Gedächtnis, die traurigen werden mehr vergessen oder auch verdrängt. Die ... Aleida Assmann schreibt, dass es erst die Erinnerungsfähigkeit ist, die Menschen zu Menschen macht. Ohne Erinnerung können wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als Individuen kommunizieren. Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht sind. Jede Erinnerung ist subjektiv bestimmt und somit unaustauschbar und unübertragbar. Was als Erinnerung aufblitzt sind in der Regel bloße Ausschnitte, unverbundene Momente, ohne Vor- und Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie Form und Struktur, durch die sie zugleich ergänzt und stabilisiert werden. Erinnerungen sind flüchtig und labil. Manche Erinnerungen ändern sich im Laufe der Zeit mit der Person und ihren Lebensumständen, andere verblassen oder gehen ganz verloren. Das Vergessen ist deshalb ein konstitutiver Teil des individuellen wie des kollektiven Gedächtnisses.
 
„Hello it’s me“ erzählt vom Erinnern und vermittelt dieses Phänomen, das im Zeitalter von E-Mail, Digitalfotografie und dem Telefon seiner einst ursprünglichen Träger zunehmend entbehrt, auf die unmittelbare Art und Weise durch gezeichnete Bilder und geschriebene Texte. Sie deuten hingegen größere Erzählungen lediglich an, denn sie erhalten lediglich Bruchstücke aus dem Leben von Personen. „Mein Vater sagte danach, er hätte eine Abschiedstour gemacht. Er konnte, so nahm mein Vater an, seinen geistigen Verfall nicht ertragen. Bei allen Freunden ist er noch mal vorbei gekommen und hat sie besucht. Mein Bruder konnte sich lange mit ihm über Jazz und Bücher unterhalten. Ich fand ihn nett, aber ich war eben jünger. Seine Tochter fand ihn morgens. Er hatte sich im Bett erstochen.“ Wir erfahren weder, wer sich hinter dem „er“ verbirgt, noch die Ursache des „geistigen Verfalls“ – gleich Erinnerungen, die sich ebenfalls meist aus Bruchstücken zusammensetzen, sind die getippten Sätze durch handgeschriebene ergänzt, wobei durchgestrichene Worte nicht gelöscht wurden. Insofern erscheinen Augenblick und Zeitraum auf enge Art und Weise ineins gesetzt, denn Prozesse werden ablesbar. Eine Balance zwischen unmittelbarer Subjektivität und distanzierter Objektivität, die auch immer das Phänomen Erinnerung charakterisiert impliziert auch immer den Zweifel an der Wahrheit vergangener Ereignisse, waren sie noch so intensiv. Denn daran, „was an diesem Tag gesprochen und gesagt wurde“ ist es oft schwer, sich zu erinnern. Wenn die Texte von Personen handeln, die lediglich in der dritten Person genannt werden, wirken sie seltsam distanziert, hingegen wiederum persönlich durch die zugefügten handschriftlichen Sätze, überkringelten Worte oder übertuschten Passagen. Insofern vermittelt die Arbeit „über den Tod, dem Erinnern und dass man gerne einiges anders gemacht hätte, aber einiges endgültig ist“ die genannten Themen und Phänomene auf sehr sinnlich eingehende Art und Weise. Die Irritation, die diese Passage vermittelt, ergänzt sich harmonisch mit der ebenso verstörenden Wirkung des Kunstwerks. Auch die Bilder der Gesichter changieren zwischen abstrakten, frei der Phantasie entstammenden Bildern und der Basis konkreter Vor-Bilder. Hingegen relativiert der grobe, dickschwarze Pinselstrich oder auch das massig wirkende Schwarz, aus dem erst bei genauerem Blick ein Gesicht herauslugt eine mögliche Ähnlichkeit mit realen Personen.
Insofern verbinden sich die hier ausgestellten Arbeiten auf Papier über die Frage nach einer notwendigen Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Unwahrheit mit früheren Werken Ralf Tekaats, die ähnliche Thematiken ansprechen. Nach New York brach er 2002 auf, um den öffentlichkeitsscheuen Schriftsteller Thomas Pynchon zu suchen, geboren am 8. Mai 1937 wurde er in New York 1997 zu letzten Mal gesehen. Seine wahre Existenz wurde in Frage gestellt und vermutet, dass seine Romane von jemand anderem unter Pseudonym verfasst wurden. Ob Ralf Tekaats Suche nach Thomas Pynchon erfolgreich war, ist eigentlich egal, denn seine danach entstandene Installation aus 300 Fotografien, Fundstücken, Kommentaren, Notizen und Zeichnungen sowie zahlreichen Zeitungsartikeln vermittelt ein vielschichtiges Bild davon, wie unwichtig es manchmal sein kann, dass ein Ergebnis erreicht wird, dass eine Ursache eine befriedigende Wirkung hat. Reicht es nicht, Visionen zu haben und versuche zu starten, Träume zu verwirklichen?
Warum ist es unmöglich, sich vorzustellen, dass Superman sogar als fiktive Figur menschliche Züge haben kann? Ralf Tekaats Arbeit macht meiner Meinung nach gerade deshalb so viel Spaß, weil sie auf so nette Art und Weise ehrlich ist – auch wenn sie aus ihrer reinen Anschauung heraus keineswegs darauf verweist, dass ihr Autor Fan der Personen ist, die wichtige Rollen in seiner Arbeit spielen.
„Hello it’s me“ ist eine Liedzeile eines „Songs for Drella“, eines Albums, das Lou Reed und John Cale für „Drella“, also für Andy Warhol schrieben. Das Blatt, das einen dieser Songtexte zitiert, ist lediglich handschriftlich mit dem Quellenverweis unterschrieben, sein Text erinnert auf ebenso menschliche wie reflektierende Weise an Andy Warhol, einen der größten Künstler des vergangenen Jahrhunderts. Neben Warhol wird ebenso an John Lennon als weiteren Star innerhalb von Freundinnen und Freunden, von Oma und Opa, erinnert. Eine kurze Passage spricht von einer veränderten Wahrnehmung seiner Werke nach seinem Tod und ihren Auswirkungen, denn „Dabei ist die Zeile „Above us only sky“ gar nicht o tröstlich.“ 
Auch wenn die weiteren Zeichnungsserien der Architekturen und Landschaften hier nur kurz berührt wurden, stehen sie in Korrespondenz mit „Hello it’s me“ auf ebenso formale wie inhaltliche Art und Weise. Der Frage nach einem inhaltlichen Zusammenhang der hier präsentierten Arbeiten unter dem Titel „Above us only sky“ nachsinnend, verstehe ich sie als einzelne, sich ergänzende und integrale Bestandteile eines temporären Ganzen. Auch wenn die Metaphern von Endlichkeit und Unendlichkeit einen formalen Zusammenhang bieten, begreife ich die Beziehung der Arbeiten untereinander als eine nicht festgelegte. Wie jeder Augenblick einzigartig ist und nur im Moment seines Erlebens und seines Ereignisses „wahr“, impliziert jeder folgende oder vorhergehende Moment immer auch die Möglichkeit, dass alles auch hätte anders sein können.

Meike Behm



Eröffnungsrede der Ausstellung
Above us only sky
(30. Januar bis 14. März 2009) im Cuxhavener Kunstverein | 
von Meike Behm
gehalten am 29. Januar 2009